Sounds like S-Bahn Berlin in Fall

14 Stationen. 5 Tage die Woche. Potsdam. Berlin. Griebnitzee. Nordbahnhof. S7. S1. Und dazwischen: Müde Gesichter, Smartphone-Getippe, aufgeschlagene Zeitungen, Bücher, vorbeiziehende Landschaften, Wälder, Autobahnen, Sehenswürdigkeiten, „Zurückbleiben, bitte“. Die Playlist dazu: Verträumt. Sehnsuchtsvoll. Melancholisch. Bittersweet. Von Bläsern und Streichern und großen, tragenden Melodien durchzogen. Von Heimweh, großen Gefühlen und Getriebensein erzählend. Herbst-Stimmung.

Griebnitzsee: Karl Hyde: „The Boy With The Jigsaw Puzzle Fingers“

Start-Bahnhof. Ehemaliger Grenzbahnhof der DDR. Heute aufgrund des sich dort befindlichen Campus Babelsberg und des Hasso-Plattner-Instituts vor allem von zahlreichen Studentinnen und Studenten stark frequentiert. Außerdem: Ziemlich guter Dönerstand.

Start-Musik: Karl Hyde, Frontmann des britischen Electro-Duos Underworld, und seiner ersten Single aus dem wunderschönen, ruhigen 2013er Solo-Debüt Edgeland. Poetisch, melodiös und ein wenig verfrickelt, zum Ende hin hymnenhaft und damit ein guter Übergang zur Überführung in die Hauptstadt.

Wannsee: Woodkid: „Boat Song“

Berlin. Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Idyllisch am Wannsee gelegen und zählt landschaftlich gesehen sicher zu einem der schöneren Bahnhöfe der Hauptstadt. Außerdem ist der „Kronprinzessinnenweg“ mit Abstand einer der besten Straßennamen überhaupt.

Der nächste Titel stammt auch aus dem Jahr 2013, ebenso von einem Debüt. Auf The Golden Age befindet sich mit „Boat Song“ des französischen Regisseurs und Musikers Woodkid ein Stück, das vom Weggehen erzählt. Eine bevorstehende Reise, die Zweifel hinterlässt („but do we really have a choice?“) und in einem fulminanten Bläser-Finale ihren Abschied findet („we threw our hearts into the sea/ forgot all of our memories“).

Nikolassee: Joy Division: „Atmosphere“

Kleiner, niedlicher, ruhiger Bahnhof. Prachtvolles Empfangsgebäude. Gibt den Auftakt zur etwas längeren Reise ohne Halt Richtung Station Grunewald vorbei an herrlichen Villen sowie dichten, in strahlend-buntes Herbstlaub getauchte Wälder auf der einen und der geschichtsträchtigen Autobahn AVUS auf der anderen Seite. Eine Strecke, die wahrhaftig zum Grübeln und Träumen einlädt. Besonders, wenn der Grunewald in den frühen Morgenstunden verwunschen-märchenhaft von kriechenden Nebelschwaden umspielt wird.

Anmut und Melancholie vereint und daher„Atmosphere“ – für mich einer der besten Kompositionen Joy Divisions. Düster. Empfindsam. Fragil. Verletzlich. Attribute, wie sie im Grunde auf fast alle Joy-Division-Songs zutreffen, aber hier nochmal auf besonders emotionale Art gebündelt werden. Traurig-schöne Synthie-Instrumentierung trifft auf Ian Curtis markant-düstere Bass-Bariton-Stimme und findet Vollendung in depressiv-schwermütigen Textpassagen. Nähe. Distanz. Ambivalenz. Gib mir Freiraum, aber lass mich nicht endgültig allein. Walk in silence. Don’t walk away, in silence… .

Grunewald: The Velvet Underground & Nico: „I’ll Be Your Mirror“

Geschichtsträchtiger Bahnhof im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Zu Zeiten des Nationalsozialismus einer der Berliner Bahnhöfe, von dem aus Deportationszüge mit deutschen Juden in osteuropäische Ghettos starteten. Heute erinnern dort Mahnmale daran.

Auf dem Friedhof Grunewald-Forst befindet sich außerdem die letzte Ruhestätte von Nico alias Christa Päffgen. Die wunderschöne Frau mit den traurigen Augen und der dunklen Stimme. Andy Warhols Muse. Punk Chick. Und natürlich unverwechselbarer Bestandteil des Debüt-Albums von The Velvet Underground. Auch „I’ll Be Your Mirror“ befindet sich darauf. Ich mag die Message des Songs, dass wir jemanden in unserem Leben haben, der uns so sieht wie wir sind, uns versteht und uns das Gefühl gibt, dass am Ende alles irgendwie okay sein wird, selbst wenn es sich gerade nicht danach anfühlt. „I’ll be the wind, the rain and the sunset. The light on your door to show that you’re home.“

Westkreuz: The Augustines: „Weary Eyes“

Als Turmbahnhof konstruierter Bahnhof, der einst vor allem zum schnellen Umsteigen in andere Bahnen konstruiert wurde. Hier treffen außerdem Ringbahn und Stadtbahn aufeinander.

Einen Hauch von Aufbruchsstimmung versprüht hingegen der Track „Weary Eyes“ der New Yorker Indie-Rocker The Augustines, der von ihrem ebenso benannten 2014er Werk stammt. Kraftvoll, energetisch und herzerwärmend. Ein Song, in dem man sich verlieren kann, während man das Gesicht an die kühle Fensterscheibe der Bahn schmiegt. Schlüsselzeile: „We laid on the roof, drank wine and we proved we could fix ourselves.“ Schön.

Charlottenburg: Cults: „You Know What I Mean“

Einer von 20 sogenannten Stammbahnhöfen der Berliner S-Bahn. Wurde 1882 einst als westlicher Endpunkt errichtet. Toller Ausblick auf leuchtend bunte Häuserfassaden beim Blick aus dem S-Bahn-Fenster.

Im Kontrast dazu das Gänsehaut erzeugende „You Know What I Mean“ des Indie-Pop-Duos Cults. Auf dem aus dem Jahr 2011 stammenden Debüt der Band zu finden. Ein tolles Album, das in seiner Gesamtheit klingt als wäre es ein paar Jahrzehnte eher produziert worden. Und „You Know What I Mean“ geht dahin, wo es weh tut, vor allem weil Sängerin Madeline Follin soviel Verzweiflung in den Refrain bringt. „I try so hard to be happy“ – wo ist mein Platz in dieser Welt und warum bin ich so oft nicht zufrieden mit dem, was ich habe, obwohl ich es sein sollte? Killer-Song.

CULTS „You Know What I Mean“ from Isaiah Seret on Vimeo.

Savignyplatz: Fleet Foxes: „Your Protector“

Ein von zahlreichen Grünflächen sowie Cafés, Bars, Buchläden und Restaurants umgebender S-Bahnhof. Charmant und belebt. Interessante Anekdote: Direkt am Platz existieren ausschließlich Straßen, die auf Männernamen zurückzuführen sind.

Eine kraftvolle Sound-Wand und innerliche Traum-Bilderwelt, die zum bunt-belebten Savignyplatz passen, erschaffen die Fleet Foxes mit „Your Protector“. Ein Titel vom Erstlingswerk des Quintetts aus Seattle, das mich schon lange begleitet. Als ich das Album 2008 das erste Mal gehört habe las ich gerade „Brennen muss Salem“ von Stephen King. Die Beschreibungen des Kleinstadtlebens rund um Salem’s Lot und die Titel des Albums harmonierten perfekt miteinander, so dass ich beides nach wie vor verbinde. Und „Your Protector“ in all seiner klanglichen Schönheit finde ich bis heute episch.

Zoologischer Garten: David Bowie – „Heroes“

Einer der Hauptverkehrsknotenpunkte der Hauptstadt. Unmittelbar am Zoo gelegen. Bekam vor allem in den 70er und 80er Jahren auch aufgrund des Erscheinens von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ein Image des sozialen Brennpunkts, welches ihm bis heute anhaftet.

Ebenso verbindet man mit Buch und Film nach wie vor „Heroes“, einem 1977 erschienen Stück aus David Bowies Berlin-Triolgie. Christiane F. ist in dem Film ein Bowie-Fan, Bowie selbst kommt bei einem Konzertauftritt vor, der Soundtrack besteht aus Liedern der Berlin-Trilogie. “Heroes” unterlegt außerdem eine bedeutende Action-Szene im Film. Ursprünglich handelt der Song von zwei Liebenden, die im Schatten der Berliner Mauer zueinanderfinden.


Tiergarten: The Knife: „Marble House“

Berlins goldene Mitte direkt an der Straße des 17. Juni. Wenn die Sonne im richtigen Winkel steht erstrahlt die Siegessäule im güldenen Morgenlicht.

Das Kontrast-Programm dazu: Düstere Melodien und kryptische Lyrics des schwedischen Geschwister-Duos The Knife, die sich doch auch erhebend anfühlen. Der Text erzählt von totaler Hingabe und Zuwendung im „Marble House“. Zu finden ist das Stück auf dem 2006 erschienen Album „Silent Shout“.


Bellevue:
The National: „About Today“

Befindet sich in der Nähe des Schloss’ Bellevue, dem Amtssitz des deutschen Bundespräsidenten. Die komplette Anlage ist denkmalgeschützt.

Bei The National, einer meiner absoluten Lieblingsbands, ist es tatsächlich schwer sich für einen Song zu entscheiden. „About Today“ reiht sich in diese Playlist jedoch am passendsten ein. Spärlich instrumentiert trägt Sänger Matt Berninger die Lyrics eher wie Verse eines Gedichts vor. Oder wie Gedanken-Fetzen aus traurigen Tagebucheinträgen. Es geht um das schleichende Ende einer Beziehung. Der Protagonist weiß bereits, dass der Abschied unvermeidbar ist („You just close your eyes, and I just watch you, slip away“), fürchtet sich jedoch davor sich der Wahrheit zu stellen. Gibt es eigentlich eine Art Fundbüro für verloren gegangene Gefühle?

Hauptbahnhof: Beach House: „Myth“

Ehemaliger Lehrter Bahnhof. Heute Berlins wichtigster Personenverkehrsbahnhof. Zugleich größter Turmbahnhof Europas.

Dream Pop am Hauptbahnhof vom US-amerikanisch-französischen Duo Beach House. „Myth“ verzaubert, betört und lässt dich happy sad zurück. Es geht ums Weiterziehen, Weitermachen und darum das, was in der Vergangenheit liegt, hinter uns zu lassen. Aufbruchsstimmung.

Friedrichstraße: The Notwist: „Consequence“

Lieblingsbahnhof. Direkt an der Spree. Zur Zeit der deutschen Teilung war der Bahnhof Friedrichstraße eine der wichtigsten Grenzübergangsstellen zwischen Ost- und West-Berlin.

„You’re the colour, you’re the movement and the spin…“ – wunderschöne Eingangs-Worte eines Liebenden an seine Angebetete. Geschrieben und vertont durch The Notwist. Jedes Mal, wenn der Liebende seine Traumfrau sieht, hinterlässt sie ihn paralysiert. Aber offensichtlich hat er nicht den Hauch einer Chance, denn hey, wir sind hier weder in einer Hollywood-Schnulze noch in einem Happy Go Lucky Pop-Song. Am Ende steht also symptomatisch die Zeile „fail with consequence, lose with eloquence and smile“. Kitschig? Ja! Romantisch? Defintiv! Und einer dieser Songs, den man im Hintergrund hören möchte, wann immer etwas Außergewöhnliches im eigenen Leben geschieht. „Consequence“ ist im Jahr 2002 auf dem Tonträger Neon Golden erschienen.

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